Das KI-Leuchtturmprojekt AI4grids setzt KI ein, um den Zustand der Energienetze effizienter vorherzusagen und diese zu regeln. Projektkoordinator Professor Gunnar Schubert (HTWG Konstanz) berichtet über Ergebnisse und Herausforderungen.
Herr Schubert, Sie haben gemeinsam mit mehreren Projektpartnern aus Forschung und Energiebranche etwas mehr als drei Jahre lang das KI-Leuchtturmprojekt AI4grids umgesetzt. Was war das Ziel Ihrer Arbeit?
Gunnar Schubert: AI4Grids gibt eine Antwort auf eine drängende Frage der Energiewende. Durch die Transformation des Energiesystems gibt es und wird es in Zukunft noch verstärkt zum einen viele dezentrale, regenerative Energieerzeuger wie Photovoltaik und Windkraft geben. Zum anderen führt die Elektrifizierung dazu, dass neue Verbrauchsstellen wie Wärmepumpen und Elektroautoladestationen an die Mittel- und Niederspannungsnetze angeschlossen werden. Verbrauch und Erzeugung lassen sich damit nicht mehr so leicht vorhersagen. Außerdem wird es Zeitpunkte geben, zu denen es einen hohen Leistungsbedarf oder -bereitstellungen geben wird. Mit denen müssen die Stromnetze dann umgehen. Das ist eine hochbrisante Herausforderung. Eine Lösung ist, das Stromnetz massiv auszubauen. Unser Ansatz hingegen ist es, intelligente Lösungen für den Betrieb der Netze zu erforschen und zu entwickeln, um auf unterschiedliche Situationen reagieren zu können.
Wie haben Sie dieses Ziel erreicht?
Wir haben einen Gesamtalgorithmus entwickelt, zu dem alle Forschungspartner*innen beigetragen haben. Wesentliche Bestandteile sind Vorhersagealgorithmen, Zustandsschätzungen sowie der Betriebsführungsalgorithmus. Wir haben neuartige Vorhersagealgorithmen erforscht und entwickelt, durch die wir die Wahrscheinlichkeitsverteilung von Strombedarf und -erzeugung im Energienetz in Echtzeit vorhersagen können und nicht mehr nur einen Wert. Ein Beispiel: In einem dezentralen Energiesystem steht Sonnenenergie schwankend zur Verfügung, je nach Wetter. Und das Wetter lässt sich ja nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Ähnlich verhält es auch mit den „neuen“ Abnehmern wie Elektroladesäulen und Wärmepumpen. Exakte Werte zur Nutzung lassen sich schlecht vorhersagen, Wahrscheinlichkeitsvorhersagen, wenn diese genutzt werden, eignen sich viel besser. Unsere Algorithmen simulieren daher, was die wahrscheinlichsten Werte zu bestimmten Zeiten sind, aber auch was die Extremwerte sind. Diese Vorhersagen sowie die Netzzustandsschätzungen sind zusätzliche Eingaben für unseren Betriebsführungsalgorithmus, der das Stromnetz dann regelt. Hierfür haben wir eine neue Architektur entwickelt, die sehr gute Regelungseigenschaften aufweist.
Wie praxistauglich ist diese Lösung?
Wir haben die Algorithmen so entwickelt, dass sie nicht immer neu trainiert werden müssen, wenn sie auf andere Netze übertragen werden. Denn das wäre ein riesiger Aufwand. Dafür haben wir neuronale Netze gefunden, die Stromnetze besonders gut abbilden und die leicht anpassbar und skalierbar sind. Damit können wir das Projekt jetzt relativ einfach auf andere Netze, andere Städte und andere Kommunen übertragen.
Wie geht es nun weiter?
Einige unserer Algorithmen sind schon so weit, dass wir sie auch bald in der Praxis einsetzen können. Es gibt großen Bedarf. Das Projekt hat bundesweit und darüber hinaus Wellen geschlagen.
Woran liegt das?
Die Herausforderungen aufgrund der Transformation des Energiesystems erfordern intelligente Steuerungen. Spannend sind auch die Ersparnisse, die entstehen können, wenn Netze effizienter genutzt werden. Wenn man davon ausgeht, dass die Energiewende auch auf kommunaler Ebene recht schnell erreicht werden soll, dann ist die große Frage: Was kostet das eigentlich? Und wie viel können wir vielleicht mit KI einsparen? Nach Hochrechnungen unseres Praxispartners würde der notwendige Ausbau der Stromnetze ohne den Einsatz von KI Kosten mit dem Faktor fünf mit sich bringen. Machen wir die Netze fit mit KI verringert sich dies auf den Faktor drei. Für die Region Friedrichshafen, in der wir das getestet haben, würde der Ausbau der Netze ohne den Einsatz von KI rund 180 Millionen Euro kosten. Regeln wir die Netze konsequent mit KI, verringert sich das auf 100 Millionen Euro – ungefähr die Hälfte! Die Kosten für den Netzausbau würden sich also auch bundesweit extrem verringern.
Sehen Sie besondere Herausforderungen?
Es hat sich gezeigt, dass der Bedarf je nach Größe der Netzbetreiber unterschiedlich ist. Die großen Betreiber haben selbst Forschungs- und Entwicklungsabteilungen und können an eigenen Lösungen arbeiten. Viele Netze aber werden von kommunalen Stadtwerken getragen. Sie müssen sich erstmal in das Thema KI einarbeiten, auch das Personal ist dafür noch nicht ausgebildet. Hier können externe Dienstleister die Implementierung übernehmen, gerade wenn es darum geht, ganze Netze zu steuern.
Wie schnell wird die Implementierung in der Praxis dauern?
Wir reden hier im Normalfall von zwei oder drei Jahren, bis das passieren kann. In kleineren Quartieren oder unter Forschungsbedingungen kann es auch deutlich schneller gehen. Aber in einer ganzen Stadt ist das ein laufender Prozess. Anfangen wird man auch hier eher in einzelnen Quartieren.
Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus AI4grids ansonsten mit?
Zum einen war die Zusammenarbeit mit unseren Projektpartnern herausragend, trotz der heterogenen Partnerstruktur. Was wir uns hingegen gewünscht hätten: dass wir schon früher große Datenmengen zum Trainieren unserer Algorithmen zur Verfügung gehabt hätten. Der Aufbau der Datenerfassung hat viel mehr Zeit benötigt, als wir im Vorfeld angenommen haben. Weiterhin haben wir durch die innerhalb des Projekts durchgeführten Symposien eine konkrete Plattform für den Austausch zu KI-Anwendungen in Verteilnetzen zwischen Forschungsinstituten und der Energieindustrie etablieren können, welche von den Teilnehmenden sehr positiv aufgenommen wurde. Die direkte Rückmeldung der potentiellen Anwender*innen ist für die Entwicklung unserer Algorithmen sowie der Teilnehmenden sehr wertvoll gewesen.