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Können mithilfe von KI beliebte Reiseziele entlastet werden? Wir sprachen mit Dr. Dirk Schmücker, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa (NIT) GmbH, über die Ergebnisse des KI-Leuchtturmprojektes AIR.
Herr Dr. Schmücker, was waren die Gründe, das Projekt AIR zu initiieren?
Seit ca. 2015 gab es verstärkt Diskussionen zum Thema Übertourismus (overtourism), ausgelöst durch Proteste von Anwohner*innen in europäischen Hotspots wie Barcelona oder Dubrovnik. Demzufolge kam die Frage auf, ob man nicht etwas tun kann, um Besucherströme ohne Regulierung oder Sperrung zu entzerren oder zu lenken. In den Großschutzgebieten wie Nationalparks oder Biosphärenreservaten hat das Thema Besucherlenkung schon eine lange Tradition.
Was war der Leuchtturmcharakter des Projektes?
In unserem Forschungsbericht für das Umweltbundesamt (UBA) von 2019 stellte sich heraus, dass digitale Technologien das Potenzial haben, Besucherströme zu entzerren. Mit AIR versuchten wir also mittels digitaler Technologien, unter anderem des maschinellen Lernens, eine Lösung für das Phänomen „overtourism“ zu finden. Wir haben neben theoretischen und technischen Arbeitspaketen das Projekt bewusst mit sechs Use Cases konzipiert, also Testfelder in verschiedenen Tourismusdestinationen eingerichtet. Die Mitarbeitenden in den Tourismusdestinationen sollten die Anforderungen definieren, sodass wir gemeinsam mit den anderen Verbundpartnern Lösungen entwickeln konnten. Zudem haben wir die ausgewählten Orte umfangreich mit Sensoren, z.B. Kameras, ausgestattet. In einem solchen Umfang systematisch Testfelder aufzubauen: Das war neu.
Welche konkreten Ergebnisse hat das Projekt geliefert?
Ein zentrales Ergebnis konnten wir zum Thema Besucherlenkung gewinnen: Zum Beispiel ist der Ruhrtalradweg an bestimmten Stellen in der Saison hoch frequentiert, sodass es zu Überfüllungen auf der Nordroute kommt. Hier wollten wir die Leute auf die weniger überfüllte Südroute lenken. Das haben wir versucht, indem wir auf der Fähre einen großen Bildschirm installiert haben. Je nach Prognose und Wettervorhersage wurde eine bestimmte Auslastung vorhergesagt und Empfehlungen für eine Alternativroute ausgegeben. Das Ergebnis war interessant: Trotz Vorhersage erzielten wir keinerlei Lenkungseffekt. Unser Learning hier war, dass wir uns auf die Einsichtsfähigkeit von Besuchenden nicht wirklich verlassen können. Für einen signifikanten Lenkungseffekt müssen demnach andere Maßnahmen greifen.
Welche Maßnahmen zur Besucherlenkung haben besser funktioniert?
Hier haben wir vielversprechende Erfahrungen in einem anderen Use Case an der Nordsee gemacht: Mitte 2024 wurden für Wattwanderungen Online-Buchungsmöglichkeiten eingeführt. Das wurde sehr gut angenommen. Es bietet nicht nur auf Anbieterseite die Möglichkeit, besser hinsichtlich der Auslastungsquote zu planen. Auch die Konsument*innen sind entspannter, wenn der Platz bei der Wattwanderung sicher ist. Unsere Erfahrungen zeigen bisher, dass sogar, wenn eine Wettervorhersage zu dem Zeitpunkt noch gar nicht möglich ist, lange im Voraus gebucht wird.
Welche Herausforderungen gab es im Projekt?
Die Herausforderungen waren teils ganz praktischer Natur. Für die Messung der Auslastung nutzten wir als Sensoren unter anderem Kameras. Es war geplant, im ersten Jahr Kameras zu installieren und dann im zweiten Jahr messen zu können. Das hat leider nicht so gut funktioniert. Die letzten Sensoren konnten wir erst nach zweieinhalb Jahren installieren, weil sich die Ausschreibungsprozesse sehr hinzogen.
Auch waren die gemessenen Daten nicht unbedingt zuverlässig. Zum Beispiel wurde eine Parkplatzauslastung von wesentlich mehr Fahrzeugen ausgegeben, als tatsächlich Stellplätze da waren. Das lag daran, dass der Eingangssensor anders misst als der Ausgangssensor.
Die Kolleg*innen, die sich im Projekt um die Datenaufbereitung kümmerten, konnten es aber durch das sogenannte Ensemble Learning gut lösen. Es gibt in der Datenanalytik allein für Forecasts verschiedene Algorithmen. Und jeder dieser Algorithmen hat seine Stärken und Schwächen. Im Ensemble Learning trainiert man verschiedene Modelle und lässt die dann zusammenarbeiten, sodass das Gesamtergebnis genauer ist, als jedes einzelne Modell für sich. So wurden an der FH Kiel als auch an der Hochschule in Kempten diverse Modelle maschinellen Lernens gerechnet, die am Ende gut funktioniert haben.
Wie geht es weiter?
Wir haben keine Projektverlängerung beantragt, weil wir denken, dass in diesem Setup das Thema gut bearbeitet wurde. Unsere Datenauswertungen zeigen, dass Menschen nur bedingt lenkungswillig sind. In Großschutzgebieten kann Lenkung durch reine Informationen bei einer sehr naturorientierten Zielgruppe funktionieren. Aber in einer freizeitorientierten Gesellschaft und in Tourismusdestinationen mit unscharf definierten Grenzen funktioniert das deutlich weniger gut. In der Praxis gäbe es jetzt viele Ansatzpunkte weiterzumachen, beispielsweise Interventionsmaßnahmen wie Reservierungsmöglichkeiten auszubauen.
Vielen Dank für das Interview!