Zum Hauptinhalt springen
22.05.2023

Mit Daten und Durchhaltevermögen: KI gegen das Artensterben  

Das KInsecta-System als Selbstbausatz zur automatisierten Klassifikation von Insekten.

Gezielter Umweltschutz benötigt Daten. Diese müssen meist über einen langen Zeitraum gesammelt und ausgewertet werden. Die Anwendung von KI in Bürgerwissenschaftsprojekten und Smartphone-Apps ermöglicht beides: Daten und Durchhaltevermögen.

Die meisten Veränderungen, besonders die ganz großen, geschehen unbemerkt. Auch das vielleicht größte Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier kann ohne viel Aufheben an uns vorbeiziehen. Niemand beschwert sich, wenn die Frontscheibe des Urlaubsautos sauber bleibt. 

Um kleine, aber bedrohliche Veränderungen überhaupt wahrzunehmen, benötigt es gezielte Methoden und Instrumente. Die Rote Liste der internationalen Naturschutzunion (IUCN) der bedrohten Tier- und Pflanzenarten ist ein solches Instrument, um das Ausmaß des Artensterbens sichtbar zu machen. Sie umfasst über 150.000 Arten, von denen gut 40.000 als vom Aussterben bedroht gelten. Das ist alarmierend, und zeigt dabei nur einen kleinen Ausschnitt: Die Anzahl aller Arten auf unserem Planeten wird auf mehrere Millionen geschätzt, wobei die Zahlen zwischen fünf und über 100 Millionen schwanken. Die IUCN-Rote Liste selbst beinhaltet zigtausende Arten, die als „data deficient“ gekennzeichnet sind, bei denen also nicht genügend Informationen vorliegen, um einzuschätzen, ob diese Arten bedroht sind oder nicht. Die Rote Liste der IUCN ist ein wirkungsvolles Instrument und hilft dabei, 150.000 Arten im schützenden Blick zu behalten, aber dennoch können mit dieser Datenbasis Millionen Arten aussterben, ohne dass es überhaupt registriert wird.

Artenschutz benötigt eine breite Datenbasis, doch Daten zu sammeln ist aufwändig

Es herrscht also Unsicherheit, was den Bestand verschiedener anderer Arten angeht, und um dieser zu begegnen, ist neben guten Werkzeugen, klugen Strategien und vielen Händen noch etwas gefragt: Durchhaltevermögen – ein gutes Beispiel dafür sind ehrenamtliche Entomologinnen und Entomologen aus Krefeld. Sie hatten fast drei Jahrzehnte Fallen für Insekten aufgestellt und den Inhalt gewogen. Sie stellten fest, dass sich die Biomasse der Insekten massiv reduziert hatte. Bei allen methodischen Herausforderungen ist diese Studie nach wie vor die beste Datengrundlage für das Phänomen, denn die Krefelder Ehrenamtlichen hatten das Durchhaltevermögen, um über einen so langen Zeitraum systematisch zu beobachten, zu wiegen, zu dokumentieren und diese Daten auszuwerten und in die öffentliche Debatte einzubringen.

Gezielte Maßnahmen im Umweltschutz benötigen das Verständnis komplexer Sachverhalte. Um das aufzubauen, muss systematisch und kontinuierlich beobachtet und gemessen werden. Es müssen also Daten gesammelt werden. Der Insektenrückgang blieb lange Zeit unbemerkt, weil zur Datenerhebung, Datenanalyse und Modellierungen bewusst Ressourcen aufgebracht werden müssen. Könnten wir uns ein perfektes Vorgehen ausdenken, sähe es wahrscheinlich folgendermaßen aus: Eine sehr große Gruppe an Datensammler*innen mit enormer Expertise, um beispielsweise Tier- oder Pflanzenarten zu bestimmen, stünde zur Verfügung. Sie erhöben an vielen Stellen der Erde kontinuierlich Daten, die in Datenbanken mit guter Methodik, mit wissenschaftlichen Tricks und Kniffen, ausgewertet werden, um schwer beobachtbares Geschehen in der Natur beschreiben zu können. Bedrohliche Entwicklungen würden sichtbar gemacht, die Hintergründe verstanden und gezielte Gegenmaßnahmen ergriffen.

Einsatz von KI in Bürgerwissenschaftsprojekten leistet aktiven Beitrag zum Umweltschutz

Dieser Traum aller Artenschützerinnnen und -schützer ist freilich in der Realität nicht leicht umzusetzen: Finanzielle Ressourcen für die datensammelnden Menschen sind begrenzt. Selbst wenn es bezahlbar wäre, sind die erforderlichen Expertinnen und Experten nicht in einer großen Anzahl verfügbar. Computer oder Algorithmen hingegen könnten im Artenschutz eine große Wirkung entfalten - und das zeigt sich erfreulicherweise schon heute, auch in zivilgesellschaftlichen Projekten. Diese profitieren gerade sehr von Technologieentwicklung, z.B. durch die rasante Verbreitung von „smarten“ Geräten und Umgebungen, wie Smartphones, Tablets und dem Internet of Things.

Smartphones sind heute umfassend mit Sensorik und Lokalisationstechnologie, wie Kameras, Mikrofonen, Intertialsensorik, Kompass und GPS ausgestattet. Damit können sie zu leistungsfähigen, mobilen Datenerfassungsgeräte werden. Das ermöglichen insbesondere Artbestimmungs-Apps, wie Flora Incognita (https://floraincognita.de/), Naturblick oder iNaturalist, und mit ihrer Hilfe können Menschen ihre eigenen Fertigkeiten um die Expertise von Zoolog*innen bzw. Botaniker*innen ergänzen. Die breite und kontinuierliche Anwendung dieser Apps kann beides, Daten und Durchhaltevermögen ermöglichen. Ein weiteres, besonderes Potential steckt nämlich in der Art, wie diese Apps eingesetzt werden können. Sie haben das Potenzial, große Gruppen von Menschen zu mobilisieren. Eingebunden in so genannte Bürgerwissenschaftsprojekte (Citizen Science Projekte) kartiert nicht nur eine große Anzahl an Menschen die Tier- und Pflanzenwelt. Es ist vielmehr ein Wechselspiel zwischen Zivilgesellschaft und der Berufswissenschaft: Bürger*innen sind aktiver Teil des wissenschaftlichen Prozesses und erhalten die Möglichkeit, Methoden und Theorien kennenzulernen. Sie können ihre eigenen Fragen stellen, Hypothesen entwickeln und Antworten finden. So ist der Zugang zu Biodiversität nicht mehr abgehoben und abstrakt, Wissenschaft nicht mehr das, was „die da oben“ machen. In vielen Fällen finden sich Aktivist*innen zu stark verbundenen Gemeinschaften zusammen. Nachtschwärmer ziehen nach Einbruch der Dunkelheit los, um mit der Naturblick-App die Gesänge der Nachtigallen aufzunehmen. Menschen kümmern sich um eine insektenfreundliche Bepflanzung der unversiegelten Flächen in ihrem Kiez oder beschützen seltene Krötenarten im nahegelegenen Feuchtgebiet. Denn nur was bekannt ist, kann auch bewahrt werden.

Natürlich leiden die gesammelten Daten unter Einschränkungen und Verzerrungen. Beispielsweise spiegelt sich die Bevölkerungsdichte in den Datensätzen oder ebenso die Anzahl der Smartphone-Nutzenden in bestimmten Regionen wider. Die Interessen der Nutzenden haben einen Einfluss auf die erfassten Pflanzenarten. So werden auffällige Arten öfter registriert als unauffällige. Auch attraktive und positiv konnotierte Arten sind häufiger vertreten als Tiere oder Pflanzen, die als schädlich oder unangenehm wahrgenommen werden. Trotz dieser Einschränkungen sind Datensammlungen, an denen Bürger*innen mit automatisierten Arterkennungsmethoden mitwirken, durch die schiere Menge der gesammelten Beobachtungsdaten sehr wertvoll für die konventionelle Forschung. So lassen sich Arten nicht nur engmaschig kartieren, die Entwicklung der Biodiversität oder die Verbreitung invasiver Arten überwachen. Derartig zeitlich und räumlich hoch auflösende Beobachtungen erlauben es auch, phänologisch eingeordnet zu werden und damit die Auswirkungen von Klimaveränderungen aus Blütezeit oder Samenreife im Jahresverlauf sichtbar zu machen.

Natürlich ist Datenerfassung nicht nur mit dem eigenen Smartphone möglich. Das zeigt sich beispielsweise beim KI-Leuchtturmprojekt FutureForest, bei dem neue Verfahren für eine bundesweite Bestimmung von Baumarten und Baumzustand auf Basis von Satellitenbildern entwickelt werden. Darüber hinaus wird ein Blick auf den Baumzustand geworfen. So können Satellitenbilddaten ausgewertet werden, um den erwarteten und den beobachteten Zustand des Waldes zu vergleichen und typische Muster zu identifizieren, die zur Früherkennung von Waldschäden dienen können.

KI-Ideenwerkstatt für Umweltschutz ist Lernort und Freiraum für die Zivilgesellschaft

Künstliche Intelligenz kann auch mit Sensorik am Boden einen Mehrwert bieten. Imkerinnen und Imker des Bee Observer e.V., die über ganz Deutschland „smarte“, also mit Sensorik ausgestattete, Bienenstöcke verteilt haben, nutzen die Honigbiene als Indikatororganismus, um weitere Gründe für das Insektensterben zu verstehen. Die Biene wird gewissermaßen selber indirekt zum Sensor. Die Daten aus den Bienenstöcken helfen zusammen mit der Expertise und dem Beobachtungswillen der Imker*innen dabei, KI zu trainieren, um Aussagen und Vorhersagen über den Gesundheitszustand der Honigbienen treffen können. Dieser wiederum spiegelt den Gesundheitszustand aller Insekten, die im Fluggebiet der Bienen leben wider. Denn sie sind denselben Bedingungen ausgesetzt: Wetter, Nahrungsversorgung, Gifte. Die Kombination der Bienengesundheitsdaten mit weiteren Datenquellen, wie Wetterinformationen, Kartierung von Pflanzenstandorten oder Daten über die Ausbringung von Dünger und Pestiziden, geben einen detaillierten Einblick in das Wirkgefüge des Lebensraums von Insekten und könnten zeigen, welche Faktoren Druck ausüben und wie gezielte Gegenmaßnahmen ergriffen werden könnten.

Einen weiteren Zugang zum Leben von Insekten bietet das KInsecta-System. Es handelt sich um eine Lebendfalle für Insekten, die als Bausatz in Citizen Science Projekten genutzt werden kann. Durch die Kombination von Bilderkennung und Auswertung der Flügelschlagfrequenz können Insekten quasi „im Vorbeiflug“ bestimmt werden. So wird ein kontinuierliches Insektenmonitoring ermöglicht - mit einem entscheidenden Vorteil: Im Gegensatz zu konventionellen Fallen, die in der Insektenforschung angewendet werden, sterben die Insekten nicht bei der Zählung. Eine große Anzahl dieser Lebendfallen über ganz Deutschland verteilt, kann eine wertvolle Ergänzung der anfangs erwähnten Krefeld-Studie darstellen, allerdings mit einem viel dichteren Netz an Messstellen.

Beide Projekte, der „smarte Bienenstock“ des Bee Observer und die Insekten-Lebendfalle von KInsecta, lassen sich als DIY-Bausatz, mit einer Anleitung und etwas Übung, selbst zusammenbauen. Die KI-Ideenwerkstatt für Umweltschutz des Bundesumweltministeriums unterstützt dabei: Sie ist Lernort und Freiraum, in dem es interessierten Menschen ermöglicht wird, an derartigen Projekten teilzunehmen, diese weiterzuentwickeln und eigene datenbasierte Ansätze einzubringen. Hier kann in Workshops der souveräne Umgang mit Sensorik, Datenerfassung und Methoden der KI erlernt werden, um damit einen eigenen Beitrag zum Umweltschutz und insbesondere dem Erhalt der Biodiversität leisten zu können. Umweltengagierte aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft werden zusammengebracht und von Data Scientists in der KI-Ideenwerkstatt bei der Lösung drängender Naturschutzfragen mithilfe von Daten/KI unterstützt.

Die KI-Ideenwerkstatt ist dabei ein Baustein, um Menschen bei dem zu unterstützen, was für einen gezielten Schutz der Umwelt benötigt wird: Daten und Durchhaltevermögen.

Über die Autoren

Thorsten Kluß ist als Referent in der KI-Ideenwerkstatt für Umweltschutz für Kooperationen und Skalierung zuständig. Der Wissenschaftler forschte zuvor an der Universität Bremen zu Cognitive Neuroinformatics und Mensch-Computer-Interaktionen. Er ist mit dem Team von loopsai Träger des Deutschen Nachhaltigkeispreises 2020 in der Kategorie Forschung.

Stefan Ullrich ist als Referent in der KI-Ideenwerkstatt für Umweltschutz unter anderem für Bildungsformate rund um das Thema »Künstliche Intelligenz, Ethik & Umweltschutz« zuständig. Der Informatiker und Philosoph setzt sich aber auch in seiner freien Zeit kritisch mit der vernetzten Gesellschaft auseinander.

Kontakt

KI-Ideenwerkstatt für Umweltschutz Impact Hub, Rollbergstr. 28A
12053 Berlin
E-Mail schreiben

Online-Sprechstunde buchen

Sprechstunde vor Ort ohne Anmeldung:
Montag 14-16 Uhr
Dienstag 11-13 Uhr

KI-Ideenwerkstatt

Zeichnung mit Menschen und Puzzleteilen

Meldungen